2019 richtete die Welt ihre Aufmerksamkeit auf Tschechien, als die Nation durch eine Reihe von Demonstrationen gegen die Regierung erschüttert wurde. In einem Land, das oft übersehen wird und dessen Bürger nicht besonders für ihr politisches Engagement bekannt waren, reisten Menschen von nah und fern an, um an den Demonstrationen in der Hauptstadt Prag teilzunehmen und den Rücktritt vom Premier Andrej Babiš zu fordern. Die Proteste nahmen allmählich zu und gipfelten am 23. Juni 2019 im Letná Park in Prag in einer Demonstration namens „Je to na nás!“ (Es liegt an uns!) mit rund 250.000 Teilnehmern. Seitdem gab es immer wieder Demonstrationen gegen Babiš, wenngleich in geringerem Ausmaß. Nicht einmal die COVID-19 Pandemie vermochte diese Dynamik zu stoppen: Im November 2020 fand die erste Online-Demonstration statt.
Organisiert wurden die Proteste vom tschechischen Bündnis „Milion chvilek pro demokracii“ („Eine Million Augenblicke für die Demokratie“), das im Januar 2018 gegründet wurde. Laut eigener Aussage ist das Bündnis eine Organisation, die den Idealen der Revolution von 1989 entspricht. Sie fordern nicht nur, dass die gewählte Regierung verantwortlich, fair und nicht korrupt ist. Das Bündnis besteht auch darauf, dass die Bürger selbst aktiv an der Bildung einer demokratischen politischen Kultur teilnehmen können. Ihr Ziel ist es, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken und diese auf dem gesamten Kontinent stabiler zu machen.[1]
Proteste setzen sich oft aus zwei Schlüsselkomponenten zusammen. Einerseits aus der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation, andererseits auch aus der Erinnerung an historische Aktionen sowie an – gegebenenfalls gebrochene – politische Versprechen. In diesem Aufsatz werde ich daher die Frage diskutieren: Wie bauen die jüngsten von „Milion chvilek“ organisierten Proteste auf den Protesten im Kommunismus auf? Zunächst wird untersucht, inwieweit sich die jüngsten Proteste direkt auf ihre historischen Vorläufer beziehen. Danach wird erörtert, wie sich die jüngsten Proteste auf andere Formen von Dissens sowie auf langjährige Ideen und etablierte Identität stützen. Im Anschluss wird auch betrachtet, wie die jüngsten Proteste von ihren Vorläufern abweichen und sich von ihrem historischen Erbe entfernen.
Aufbau auf der Vergangenheit
Die Demonstrationen im Jahr 2019 waren das Ergebnis der jüngsten Entwicklungen in der tschechischen politischen Szene. Die Erkenntnis, dass das von Babiš gegründete Konglomerat Agrofert EU-Subventionen in Höhe von rund 82 Millionen Euro erhalten hatte, wurde als Interessenkonflikt angesehen. Am 29. April 2019 empfahl die tschechische Polizei, den Premierminister wegen Subventionsbetrugs an EU-Mitteln in Höhe von zwei Millionen Euro anzuklagen, die er angeblich für sein Ferienressort “Storchennest” verwendet hatte. Bei einer Verurteilung könnte Babiš mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen. Er bestritt die Anklage und einen Tag nach dieser Empfehlung wurde Marie Benešova, eine enge Verbündete von Babiš, zur Justizministerin ernannt. Der Verdacht, dass Benešova keine Strafanzeige gegen Babiš erheben wird, lag mehr als nahe. Der Schritt erinnerte an die jüngsten Versuche Ungarns und Polens, das Justizsystem zu kontrollieren.
Sofort wurden Parallelen zu den Protesten gezogen, die das kommunistische Regime 1989 beendeten. Erstens war das Datum von wesentlicher Bedeutung: Die Proteste im Jahr 2019 fanden zum 30-jährigen Jubiläum der „Samtenen Revolution“ statt. Es war ein wichtiges Datum im öffentlichen Bewusstsein, zu dessen Gedenken viele verschiedene Veranstaltungen organisiert worden waren. Dabei sollte nicht nur an die Zeit des Kommunismus selbst erinnert werden. Auch der Ereignisse, die seinen Untergang bewirkten und über die zwischenzeitlichen demokratischen Fortschritte wurde gedacht. Die tiefliegende Bedeutung dieses Datums wurde von Journalisten global anerkannt, die wiederholt auf die Ähnlichkeiten hinwiesen und damit die Symbolik aufrechterhielten.[2]
Zweitens war der Ort symbolisch. „Milion chvilek“ hatte den Protest im Letná Park in Prag da organisiert, wo sich am 25. November 1989 rund 800.000 Menschen versammelt hatten. Der Park spielt eine wichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis und ermöglicht die Entwicklung von Assoziationen zwischen dem Ort und die Idee der Demokratie. Darüber hinaus bettet es diese Idee in die Identität des Ortes und damit auch in die Teilnehmer*innen ein. Der Letná Park und die Menschen, die 2019 dort demonstrierten, waren auf diese Weise eng mit den Idealen verbunden, die 1989 vertreten worden waren.
Drittens nutzten die jüngsten Proteste symbolische Aktionen, die an die historischen Proteste erinnerten. Bei der ersten Online-Demonstration am 16. November 2020 wurde – wie während der Samtenen Revolution – mit Schlüsseln geklingelt.[3] Die ursprüngliche Symbolik stellte das Aufschließen bisher verschlossener Türen dar[4] und teilte den Kommunisten mit: „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen“.[5] Durch die Wiederholung des Zeichens in den jüngsten Protesten vermittelten die Demonstrierenden dieselbe Botschaft, forderten den Rücktritt von Babiš und erinnerten letztendlich auch an die Versprechen, welche nach der „Samtenen Revolution“ gemacht wurden. Der innere Charakter beziehungsweise die Botschaft der jüngsten und der historischen Proteste war also in der Tat sehr ähnlich.
Die mit der tschechischen Demokratie verbundene Symbolik baut jedoch nicht nur auf den Protesten von 1989 auf, sondern auch auf einem bereits etablierten historischen Erbe. Wie die Politikwissenschaftlerin und Historikerin Barbara J. Falk betont, begann die Neujahrsansprache von Präsident Václav Havel von 1990 mit der Aussage: “Tvá vláda, lide, se k tobě navrátila!” (Leute, eure Regierung ist zu euch zurückgekehrt.)[6] Laut Falk bedeuteten diese Worte nicht nur im offensichtlichen Sinne eine Rückkehr zur Demokratie. Die denkwürdige Zeile hat Havel symbolisch vom ersten Präsidenten der Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, aufgenommen, der dieselbe Zeile in seiner Antrittsrede verwendete. Masaryk selbst war vom tschechischen Wissenschaftler Komenský (Comenius) aus dem 17. Jahrhundert inspiriert[7]. Die Idee der Demokratie kann somit Anklänge in der tschechischen Geschichte finden, worauf sich die jüngsten Proteste mehrfach stützten. Darüber hinaus fügt die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der EU dem Kampf für die Demokratie eine weitere supranationale Dimension hinzu, da sich das Land auf diese Weise zur Wahrung demokratischer Grundsätze verpflichtet hat. Außerdem beharrt „Milion chvilek“ auf eine aktive Teilnahme an der Bildung einer demokratischen politischen Kultur, was wiederum an Havels Verantwortungserklärung anknüpft, in der er behauptet, dass „Freiheit und Demokratie die Teilnahme und damit die Verantwortung von uns allen einschließen“.[8]
Es ist nicht nur Demokratie, sondern auch die Hoffnung auf politische Moralität, auf der „Milion chvilek“ aufbauen. Der Abschluss der Neujahrsrede von Havel gibt einen Einblick in das Ausmaß, in dem der Wunsch nach Moralität bereits im tschechischen Bewusstsein existierte:
Masaryk zakládal politiku na mravnosti. Zkusme v nové době novým způsobem obnovit toto pojetí politiky. Učme sami sebe i druhé, že politika by měla být výrazem touhy přispět ke štěstí obce, a nikoli potřeby obec podvést nebo ji znásilnit. Učme sami sebe i druhé, že politika nemusí být jen uměním možného, zvlášť pokud se tím myslí umění spekulací, kalkulací, intrik, tajných dohod a pragmatického manévrování, ale že může být i uměním nemožného, totiž uměním udělat lepšími sebe i svět.[9]
Obwohl diese Rede vor 30 Jahren gehalten wurde, bleibt die Botschaft für die Ziele und Überzeugungen von „Milion chvilek“ relevant. Die angebliche Korruption der gegenwärtigen Regierung verstößt eindeutig gegen die Idee, die in Havels hoffnungsvoller Rede vorgestellt wurde. Es ist daher möglich, die politische Moral, die „Milion chvilek“ durch Havel anstrebt, bis zu Masaryk zurückzuverfolgen. Auf diese Weise bauen die jüngsten Proteste auch auf Masaryks Humanismus, sowie auf der Zwischenkriegstradition der Demokratie und auf Havels Erbe auf, da er selbst in seinen Reden und Handlungen, insbesondere in den frühen Jahren seiner Präsidentschaft, häufig Symbolik verwendete.[10]
Außerdem reicht die Geschichte des Protests selbst viel weiter in die tschechische Vergangenheit zurück als nur bis 1989. Mitte der 1960er Jahre wurden öffentliche Versammlungen und Demonstrationen häufiger, was oft zu Verhaftungen von Studierenden führte. Die Tschech*innen befanden sich zu dieser Zeit in einem erhöhten Zustand der Mobilisierung und des politischen Bewusstseins.[11] Das darauffolgende Ergebnis war der Prager Frühling, der wohl „als irriger, insgesamt jedoch als erfolgreicher Beginn einer grundlegenden Liberalisierung und Modernisierung von Gesellschaft und Ökonomie“ angesehen werden konnte.[12] Nach dessen gewaltsamer Niederschlagung und im Protest gegen die folgende Normalisierung hatte sich der Student Jan Palach selbst verbrannt. Zum 16. Januar 2019 organisierte „Milion chvilek“ eine Veranstaltung namens „50 let od sebeupálení Jana Palacha“ (50 Jahre seit der Selbstverbrennung von Jan Palach). In ähnlicher Weise gaben „Milion chvilek“ am 27. Juni 2020 eine Erklärung und einen Aufruf zum Handeln ab, um Milada Horáková, einer tschechischen Politikerin und Mitglied einer im Untergrund aktiven Widerstandsbewegung, zu gedenken: „Dlužíme to Miladě: 70 let od popravy Milady Horákové“ (Wir schulden es Milada: 70 Jahre seit der Hinrichtung von Milada Horáková). Sie wurde als Verkörperung der Ideale der Demokratie wahrgenommen.[13] Durch das Aufrechterhalten des Andenkens solcher Einzelpersonen erinnerten die jüngsten Proteste an den Preis der erreichten Demokratie – an ihren Wert, ihre Bedeutung und daran, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist.
Darüber hinaus bauen die jüngsten Proteste auf den Ideen von Freiheit und Bürgerrechten auf, für die aber nicht durch öffentliche Demonstrationen gekämpft wurde. Ein Großteil des Protestes im Kommunismus konnte nicht offen stattfinden, da dies für die Freiheit und das Leben der Beteiligten zu riskant war. Außerdem gab es anfangs wenig Hoffnung auf einen Wechsel des Regimes, der Untergrund ermöglichte aber sehr wohl ein Gefühl der Solidarität und der Gemeinschaft. Dissens war eine bedeutende Form des Protests während der kommunistischen Zeit. Er äußerte sich oft im geschriebenen Wort in Form von Samizdat oder „Selbstveröffentlichung“. Aufgrund der starken Zensur durften regimekritische Texte nicht offiziell veröffentlicht werden und wurden daher inoffiziell herausgegeben und von Hand verteilt. Auf die durch Charta 77 garantierten Rechte auf Information und freie Meinungsäußerung bestehen die Demonstranten auch heute. Am 24. November 2020 fand vor dem tschechischen Fernsehgebäude ein von „Milion chvilek“ organisierter Protest statt. Laut dem Bündnis sei die Unabhängigkeit der öffentlichen Medien für den Schutz der Demokratie in der Tschechischen Republik von entscheidender Bedeutung. Daher bedrohe der politische Druck auf das tschechische Fernsehen nicht nur seine Souveränität, sondern auch die Demokratie des Landes.[14]
So wie die historischen Proteste und der Dissens von den Unruhen in den umliegenden Ländern inspiriert waren, waren auch die jüngsten Proteste in ähnlicher Weise betroffen. Vor der „Samtenen Revolution“ gab es schon umfangreiche gesellschaftliche Transformationen in Polen, Ungarn und in der DDR, die einen wesentlichen Einfluss auf die Ereignisse in der damaligen Tschechoslowakei hatten. Auch der Dissens war länderübergreifend, was zu Solidarität zwischen den einzelnen Dissidenten aus den verschiedenen kommunistischen Staaten führte. In ähnlicher Weise waren die jüngsten Proteste teilweise vom Erfolg der slowakischen Proteste inspiriert, die eine völlig neue Regierung an die Macht brachten. Darüber hinaus griffen „Milion chvilek“ bei Themen ein, die ihre Landsleute nicht direkt betrafen. Am 5. September 2020 schrieb „Milion chvilek“ einen offenen Brief an die Vertreter des Europäischen Parlaments, damit diese das freie Belarus unterstützen. Auf diese Weise bleibt die Bewegung der ursprünglichen Solidarität zwischen Nationen treu, die in einem gemeinsamen Kampf gegen das Regime kämpfen.
Letztendlich ist es auch auf das historische Erbe zurückzuführen, dass die Proteste überhaupt stattfinden. Nur in Ostmitteleuropa ist eine so starke städtische Minderheit wiederholt auf den Straßen präsent, um die liberale Demokratie und ihre Institutionen zu verteidigen. Laut dem Historiker Joachim von Puttkamer liege das daran, dass die Ost-Mitteleuropäer den Kommunismus erlebt haben.[15] Sie erinnern sich gut an den Kampf gegen das kommunistische Regime und wissen, was auf dem Spiel steht. Die Demonstrationen seien nach von Puttkamer das „intellektuelle Erbe des Dissens“, das weit über seine Ursprünge im Kampf gegen die kommunistische Diktatur hinausgeht.[16]
Anpassung an die Gegenwart
Das Ziel der jüngsten Proteste unterscheidet sich dennoch von dem der früheren Proteste und dem Dissens. Obwohl die heutigen Demonstranten sicherlich von dem Aufstand von 1989 inspiriert sind, der den Kommunismus in der damaligen Tschechoslowakei gestürzt hat, ist ihr Kampf ein anderer: Sie wollen das derzeitige politische System der liberalen Demokratie verteidigen, nicht stürzen.[17] Die Demonstranten sehen heute die hart erkämpfte Demokratie als von der Regierung bedroht an. Die Aufrechterhaltung ebenjener Demokratie beinhaltet daher die Bekämpfung des „schleichenden“ Autoritarismus sowie der weit verbreiteten Korruption.[18]
Ein Aspekt davon ist der Wunsch nach einer stärker auf den Westen ausgerichteten Außenpolitik. Während dieser Wunsch ein impliziter Teil der Proteste bis 1989 war, indem die Demonstranten sich vom Kommunismus befreien wollten, ist der gegenwärtige Wunsch weniger auf Idealen, denn auf konkreten politischen Praktiken basiert. Unter anderem beschäftigt sich „Milion chvilek“ mit Fragen über das Verhalten von Babiš der EU, NATO, Russland und China gegenüber.[19]
Darüber hinaus nutzen die Demonstranten nicht nur die Symbolik des historischen Erbes, sie schaffen entsprechend der aktuellen Situation auch eine eigene. Die COVID-19-Pandemie hat Versammlungen verhindert und die Tschech*innen wurden gezwungen, kreative Wege des Protests zu finden. Wo die Dissidenten im Kommunismus das Drucken nutzten, um ihren Dissens auszudrücken, wählten die heutigen Demonstranten das Internet. Am 16. November 2020 veranstalteten „Milion chvilek“ ihre erste Online-Demonstration. Dazu hatte das Bündnis im Dezember 2020 aus Protest gegen eine Gesetzesvorlage zur Förderung neuer Kernreaktoren, die ihrer Meinung nach Sicherheit gefährden und wirtschaftlich nicht nachhaltig sein würde, eine Laserprojektion geplant. Ihre Idee war es, symbolisch „Licht auf den ganzen Fall zu werfen“, um ihren Standpunkt klar zu machen. Die Aktion sahen sie als besonders wichtig in einer Zeit an, in der es unmöglich ist, physisch zusammenzukommen und darauf hinzuweisen, wie viele Menschen gegen die Maßnahmen der Regierung protestieren. Außerdem wollten sie ein Symbol schaffen, das die Menschen sehen und das nicht nur in der virtuellen Welt vorhanden ist.[20] Die Projektion wurde von der Polizei unterbrochen.
Insgesamt dürfen Proteste jetzt offener stattfinden, als es während der erheblichen Einschränkung der Meinungsfreiheit im Kommunismus möglich war. In der Tat möchte die derzeitige Regierung den äußeren Schein wahren, Rede- und Meinungsfreiheit zuzulassen. In einer SMS an die politische Journalistenfirma Politico sagte Babiš: „It has been 30 years since the Velvet Revolution and the level of democracy in our country is very high. Demonstrations are part of [the] democratic system in the Czech Republic; people can demonstrate against me or the government and I respect their right to do so.“[21] Auch wenn diese Aussage zwar die Verwirklichung der Demokratie in Tschechien bestätigt, bleibt jedoch die Frage, wie effektiv sie in der Realität umgesetzt wird. Viele Tschech*innen sind nach wie vor zutiefst skeptisch gegenüber der Wirksamkeit politischer Partizipation. Sie sind der Meinung, dass ihre Möglichkeiten, das politische Leben zu beeinflussen, so gering sind wie im Kommunismus.[22]
Die Art der Reaktion und die Auswirkungen der Proteste fügen eine weitere Komponente zur Frage hinzu, wie die Proteste auf ihren historischen Vorläufern aufbauen. Im Gegensatz zum Erfolg der Proteste von 1968 und 1989 scheinen die jüngsten Proteste gegen die fest verwurzelten politischen Interessen und Führer mit erheblicher populärer Unterstützung relativ wenig Erfolg zu haben.[23] Laut dem Vorsitzenden der tschechischen Piratenpartei Ivan Bartoš würden die Proteste nicht ausreichen, Babiš abzusetzen. Stattdessen sei es mittlerweile wichtig, vor den Wahlen die Botschaft von besseren Alternativen zu Babiš im ganzen Land zu verbreiten, damit die Veränderungen spätestens bei den Wahlen umgesetzt werden können.[24]
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass die jüngsten Proteste von „Milion chvilek“ in erheblichem Maße auf ihrem historischen Erbe aus der Zeit des Kommunismus beruhen und dieselben Themen behandeln, um auf ihre Sache aufmerksam zu machen und sie zu betonen. In Tschechien und der damaligen Tschechoslowakei gab es bereits eine Kultur, symbolisch auf historisches Erbe zurückzugreifen. Obwohl der 30-Jahre-Meilenstein nach der „Samtenen Revolution“ jetzt vergangen ist, bleibt das historische Erbe ein wesentlicher Bestandteil der tschechischen Identität. Dieses Erbe ist außerdem so weit entwickelt, dass es Teil der kollektiven Identität der Nation geworden ist und die Proteste dazu beitragen, diese Identität zu definieren und aufrechtzuerhalten. Trotzdem sind die Proteste an die Gegenwart angepasst, insbesondere indem sie nicht mehr nach dem Sturz des Kommunismus streben, sondern die Demokratie verteidigen wollen, die sie als von der Regierung von Babiš als bedroht empfinden. Darüber hinaus sollte das Thema angesichts der bevorstehenden tschechischen Wahlen in diesem Jahr und der Frage des Rechtes auf Protest in Großbritannien sowie der geeigneten Protestmethoden in den USA nicht übersehen werden.
[1] Milion chvilek, ‘About us’, Milion chvilek, https://milionchvilek.cz/o-nas [09.04.21]
[2] Siehe u.a. Siegfried Mortkowitz (2019), „Czech PM Babiš under pressure from protests, parliament and EU“, Politico, https://www.politico.eu/article/babis-czech-prague-rally/ [09.04.21]
[3] Milion chvilek, (2020) „Rok změny: Začínáme! První online demonstrace“, https://www.youtube.com/watch?v=58iFVMfYLZM [09.04.21]
[4] John Tagliabue (1989), „Upheaval in the East; From All Czechoslovakia, a Joyful Noise“, The New York Times, https://www.nytimes.com/1989/12/12/world/upheaval-in-the-east-from-all-czechoslovakia-a-joyful-noise.html?scp=5&sq= [09.04.21]
[5] Victor Sebestyen (2009), Revolution 1989: The Fall of the Soviet Empire, Pantheon Books: New York,S. 336
[6] Václav Havel (1990), „Novoroční projev prezidenta václava havla z 1. Ledna 1990“, Moderní dějiny,
https://www.moderni-dejiny.cz/clanek/novorocni-projev-prezidenta-vaclava-havla-z-1-ledna-1990/ [09.04.21]
[7] Barbara J. Falk (2003), „Czechoslovakia: From Interrupted to Velvet Revolution“ in The Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe, Central European University Press: Budapest, S. 107
[8] Havel (1990)
[9] Havel (1990). Übersetzung: Masaryk stützte seine Politik auf die Moralität. Versuchen wir in einer neuen Zeit und auf eine neue Weise, dieses Konzept der Politik wiederherzustellen. Lasst uns und anderen beibringen, dass Politik Ausdruck eines Wunsches nach allgemeiner Glückseligkeit sein sollte, anstatt der Notwendigkeit, die Gemeinschaft zu betrügen oder zu vergewaltigen. Lassen Sie uns und anderen beibringen, dass Politik nicht nur die Kunst des Möglichen sein kann, insbesondere wenn „das Mögliche“ die Kunst des Spekulierens, Berechnens, Intrigierens, Geheimgeschäfts und pragmatischen Manövrierens umfasst. Die Politik kann auch die Kunst des Unmöglichen sein, das heißt die Kunst, uns selbst und die Welt zu verbessern.
[10] Siehe Rick Fawn (1999), „Symbolism in the Diplomacy of Czech President Vaclav Havel“ in East European Quarterly, 33, 1-19
[11] Falk (2003), „Czechoslovakia: From Interrupted to Velvet Revolution“, S. 69
[12] Jens Kastner und David Mayer (2008), Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Mandelbaum Verlag: Wien, S. 7
[13] Milion chvilek (2020), ‘Dlužíme to Miladě – prohlášení k 70. výročí justiční vraždy Milady Horákové’, Milion Chvilek, https://milionchvilek.cz/clanek/dluzime-to-milade-prohlaseni-k-70-vyroci-justicni-vrazdy-milady-horakove [09.04.21]
[14] Milion chvilek, (2020), ‘Million Moments’ Support to Czech Television’ Milion chvilek, https://milionchvilek.cz/clanek/million-moments-support-to-czech-television [09.04.21]
[15] Joachim von Puttkamer (2020), „Dissidence – doubt – creativity“, in Ferenz Lazcó und Luka Lisjak Gabrijelčič (Hg.) The Legacy of Division: East and West after 1989, Central European University Press: Budapest, S. 149
[16] Ibid. S. 153
[17] Siegfried Mortkowitz (2019), „Czech and Slovak protesters shake up political landscape“,Politico, https://www.politico.eu/article/czech-and-slovak-anti-government-protesters-shake-up-political-landscape-eastern-europe/ [09.04.21]
[18] Ibid.
[19] Milion chvilek, „#PtámeSeVlády“, Milion chvilek, https://milionchvilek.cz/ptame-se-vlady [09.04.21]
[20] Milion chvilek (2020), „Let’s Shed the Lights On the Most Expensive Tender in the Czech History“, Milion cvhilek, https://milionchvilek.cz/clanek/let-s-shed-the-lights-on-the-most-expensive-tender-in-the-czech-history [09.04.21]
[21] Siegfried Mortkowitz (2020), „Czechs march in biggest anti-government protest since communism“, Politico,
[22] Karel Vodička (2017), „The Czech Republic“ in Günther Heydemann und Karel Vodička (Hg.) From Eastern Bloc to European Union: comparative processes of transformation since 1990, Berghahn: London, S. 172
[23] Mortkowitz (2019), „Czech and Slovak protesters shake up political landscape“
[24] Ibid.